Marmor, L. 217 cm
Rom, um 190/200 n. Chr.
Inv. BS 203
Provenienz
Schenkung 1962 Johann Züst, Rancate. Ehemals Sammlung Johann Züst (1887–1976), Rancate.
Beschreibung
Der Sarkophag ist ein Meisterwerk der stadtrömischen Kunst des späten 2. Jahrhunderts n. Chr. Er wurde vermutlich von einem Ehepaar in Auftrag gegeben, das den literarischen Medeastoff als Parabel für das Drama des Lebens verstand und das gleichzeitig seine Bildung unterstreichen wollte. Die ausdrucksstarken Szenen schildern die Geschichte der barbarischen Königstochter Medea, die sich auf entsetzliche Weise am Argonautenheld Jason dafür rächt, dass er sie wegen einer anderen Frau – der korinthischen Königstochter Kreusa – verstossen hat. Der kleine Fries am unvollständig erhaltenen Deckel fasst als Vorspann zur Hauptgeschichte die früheren Ereignisse der Medeasage zusammen, nämlich Jasons Expedition nach Kolchis am Schwarzen Meer und seine Erbeutung des Goldenen Vlieses mit Medeas Komplizenschaft. Der Hauptfries ist in vier Szenen unterteilt. In der ersten lässt Medea ihre beiden kleinen Söhne der Kreusa am Abend vor deren Hochzeit mit Jason Geschenke überbringen: einen Kopfschmuck und das Brautkleid. Letzteres ist von Medea mit Gift präpariert worden. Trotz ungutem Gefühl wird Kreusa das Kleid anziehen, das sofort seine tödliche Wirkung erzielt: Rasend vor Schmerz und vor den Augen ihres entsetzten Vaters Kreon und ihres Gefolges stürzt sie in den Tod. Die nachfolgende Szene deutet den noch schrecklicheren Teil von Medeas Rache an: Sie steht noch ruhig da, unmittelbar vor dem Moment, in dem sie ihre und Jasons Söhne erdolchen wird! Nach der Tat verlässt die Rächerin mit den beiden toten Kindern in einem von zwei geflügelten Schlangen gezogenen Wagen die Erde. Diese wird von der Göttin Gaia verkörpert, von der man gerade noch den Kopf ganz rechts unten erkennt und deren Rufe Medea nicht mehr hört. Die Theatermasken, der bühnenartige Hintergrund, aber auch die chorartig gruppierten Gefolgsleute deuten darauf hin, dass die Ereignisse wie Szenen eines Schauspiels zu betrachten sind, in welchem die Akteure, genau wie die belesenen Zuschauer auch, den Ausgang des Stücks bereits kennen. Im übertragenen Sinn könnte man die Medeatragödie als Parabel für das menschliche Schicksal verstehen: Selbst nach den grössten Wirren und schrecklichsten Ereignissen findet das Drama des menschlichen Lebens mit dem Tod seine Erlösung. Der Medeastoff erfreut sich in den römischen Theatern einer regen Beliebtheit. Die Urversion verfasst bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. der athenische Tragödiendichter Euripides. Sein Stück vermag bis in die heutige Zeit das Publikum emotional zu berühren.
Bibliographie
E. Berger, AntK 7, 1964, 99 Taf. 32, 5; K. Schefold, Führer durch das Antikenmuseum Basel (1966) 143f. Nr. 217; M. Schmidt, Der Basler Medeasarkophag (o.J.); E. Künzl, BJb 169, 1969, 380ff. Abb. 36; K. Fittschen, JdI 85, 1970, 189; R. Bianchi Bandinelli, Rom. Das Ende der Antike (1971) Abb. 46; B. Andreae, Römische Kunst (1973) Abb. 115; H. Chr. Ackermann, Narrative Stone Reliefs from Gandhara in the Victoria and Albert Museum in London (1975) 11f. Taf. E,10; G. Koch - H. Sichtermann, Römische Sarkophage (1982) 159f. Abb. 181; H. Jung, MarbWPr 1984, 59 Anm. 12 Abb. 4; Kleiner Führer: Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig. 120 ausgewählte Kunstwerke (1987) 19 (M. Schmidt); K. Schefold - F. Jung, Die Sagen von den Argonauten, von Theben und Troia in der klassischen und hellenistischen Kunst (München 1989) 33 Abb. 16; LIMC VI 1 (1992) 393 Nr. 58 s.v. Medeia (M. Schmidt); V. Gaggadis-Robin, Jason et Médée sur les sarcophages d'époque impériale (Roma 1994) Nr. 24; LIMC VIII 1997, Suppl. 1170 Nr. 281 s.v. Sphinx (S. E. Katakis); P. Blome, Kat. Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig (Zürich 1999) 56 f. Abb. 68-69; V. Dasen, Jumeaux, Jumelles dans l'Antiquité greque et romaine (2005) 75 Abb. 20; Ch. Russenberger, Pathos und Repräsentation. Zum veränderten Umgang mit Mythen auf stadtrömischen Sarkophagen severischer Zeit, in S. Faust - F. Leitmeir (Hrsg.), Repräsentationsformen in severischer Zeit (Berlin 2011) 153. 172 Abb. 4; T. J. Clark, Picasso and Truth (Princeton 2013) 266f. Abb. 6.25; R. Buxton, Myths & Tragedies in their Ancient Greek Contexts (Oxford 2013) 112-114 Abb. 14; T. P. Wiseman, The Roman Audience. Classical Literature as Social History (Oxford 2015) 178f. Abb. 23 Taf. 4; Zahra Newby, Greek Myths in Roman Art and Culture (New York 2016) 308-313 Abb. 6.13; Aktuelles aus 5000 Jahren. 50 Jahre Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig (2016) 10f. 70f.; Francesco de Angelis, The Violence of Emotions: Death, Myths, and Empathy in Rom (and Etruria), in Christopher H. Hallett (Hrsg.), Flesheaters. An International Symposium on Roman Sarcophagi 2009 (Sarkophag-Studien 11, 2019) 43ff. Abb. 1-2 (und Umschlagsseite); F. Fless, in: Archäologie Weltweit 1, 2020, S. 46 (Abb.); Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig, Katalog 101 Meisterwerke (2022) 206f. Nr. 84 (T. Lochman); M. Müller u. a., Aurea Bulla. Latein. Mehrsprachigkeit. Kulturgeschichte. Band 3 2(2024) 138 Abb. 57;